Wie erinnert man sich an eine Geschichte, die nie niedergeschrieben wurde? Wie erzählt man eine Vergangenheit, die nicht in Archiven, sondern in Liedern, Symbolen und Mythen weiterlebt? In ihrer ersten internationalen Einzelausstellung Across the Water im FOTO ARSENAL WIEN geht die niederländische Künstlerin Michelle Piergoelam (*1997, Rotterdam) ebendieser Frage nach. Mit fotografischen Arbeiten, Textilien und installativen Elementen präsentiert sie ein vielschichtiges Geflecht aus familiären Überlieferungen, kolonialer Geschichte und kulturellem Erbe – und lädt das Publikum ein, sich auf eine poetische Spurensuche zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu begeben.
Im Zentrum des Langzeitprojekts steht die bislang kaum sichtbare Geschichte der surinamischem Diaspora in den Niederlanden zu der auch Piergoelams eigene Familie gehört: „Trotz meiner Wurzeln wusste ich lange Zeit nur sehr wenig über die Kultur meiner Vorfahren.“ Aus dieser Leerstelle heraus entstand das Bedürfnis, Geschichten jenseits der offiziellen Historiographie aus einer subjektiven, persönlichen Perspektive zu erzählen.
Piergoelam verwebt Mythen, Träume und Erinnerungen zu neuen visuellen Narrativen. Sie widmet sich den Liedern, die gesungen wurden, dem Wissen um Pflanzen, das über Generationen weitergegeben wurde, sowie der Verbindung innerhalb der afro-surinamischen Kultur. Zentrale Motive sind dabei die Spinnenfigur Anansi, eine Symbolfigur des Widerstands und der List, sowie das Angisa, ein kunstvoll gefaltetes Kopftuch, dessen Formen geheime Botschaften transportieren. Die Natur spielt eine ebenso zentrale Rolle: Sie wird in Across the Water zum Ort des Widerstands, zum stillen Zeugen kolonialer Geschichte und zum Resonanzraum kollektiver Erinnerung.
Die künstlerische Sprache Piergoelams ist dabei ebenso vielschichtig wie ihre Themen. In atmosphärisch dichten Fotografien, die zwischen Realität und Fiktion oszillieren, treffen dokumentarische Ansätze auf narrative Bildwelten. Dunkelheit und Traumlogik durchziehen ihr Werk wie ein roter Faden – nicht nur als ästhetische Entscheidung, sondern auch als Verweis auf das Unausgesprochene und Verdrängte. „Ich suche immer nach der Vorstellungskraft, die Geschichten auslösen“, sagt Piergoelam. „Denn in vielen kulturellen Mythen steckt eine verborgene Wahrheit.“
Die Ausstellung im FOTO ARSENAL WIEN macht diese komplexe Erzählweise räumlich erlebbar: Fotografien und textile Objekte verweben sich zu einer sinnlichen Installation, in der sich die Besucher*innen Schritt für Schritt durch fragmentarische Erinnerungsräume bewegen. Licht und Schatten, Materialität und Bildsprache verdichten sich zu einer Atmosphäre, die gleichermaßen poetisch wie politisch wirkt. So entsteht ein immersives Ausstellungserlebnis, das nicht nur betrachtet, sondern erfahren werden will – als Einladung, eigene Perspektiven auf Geschichte und Identität zu hinterfragen.
Die Ausstellung ist Teil einer Kooperation zwischen FOTO ARSENAL WIEN und der Klima Biennale Wien und wurde von Marit Lena Herrmann (FOTO ARSENAL WIEN) kuratiert. Zur Ausstellung erscheint unter dem Titel Fourteen Leaves and a Cup of Water eine Publikation.
Michelle Piergoelam, Absolventin der Royal Academy of Art in Den Haag, zählt zu den prägnanten Stimmen einer jungen Generation von Fotograf*innen, die Geschichte nicht als abgeschlossene Erzählung, sondern als dynamischen Prozess begreifen – getragen von Erinnerungskultur, kollektivem Gedächtnis und dem Akt des Neu-Erzählens. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem 2. Preis für Storytelling von De Zilveren Camera. Seit 2023 ist sie Teil des FUTURES Netzwerks.